30.03.
Wäre diese Geschichte nicht wahr, müßte sie erfunden werden. Sie handelt von Martin, einem Nachbarsjungen, der elf Jahre alt ist und mich seit einiger Zeit hin und wieder besucht. Wir schauen zusammen fern, vor allem Fußballspiele und Tierfilme. Oder er ißt mit mir, was ich gekocht habe, und wir reden über dies und das. Martin sitzt auch gern einfach da und schweigt, wobei er mir nicht besonders entspannt vorkommt, eher angestrengt konzentriert, mit unruhigen Augen und Händen, so als lauere er hinüber über den Gartenzaun, zu seiner Mutter, die er sein „Sorgenkind“ nennt. Allerdings will er mir nicht verraten, wieso.
Einmal sagte er: „Du hast doch Bücher – da steht sicher was drin über Engel, Schutzengel vor allem.“ Ich fand auf die Schnelle nicht viel und konnte ihm nur ein paar Sätze dazu vorlesen, etwa daß Engel Himmelsboten seien und den Menschen wie ihresgleichen erschienen, allerdings mit Flügeln bis auf den Boden. Am besten gefiel Martin die Stelle bei Dante, wo ein Engel beschrieben wird, der sich im Flug nähert und dabei einem Lichtpunkt ähnelt, der immer größer und heller wird. „Wie ein Flugzeug bei Nacht, wenn es landet!“, rief er. Sonst beeindruckten ihn meine Engelsschilderungen kaum.
Am Ende fragte er lächelnd, ob ich vielleicht wissen wolle, aus welchem Stoff die Engel gemacht seien. Ich sagte staunend: „Ja, weißt du es denn?“ „Ich glaube schon“, antwortete er ein wenig verlegen, „aber du darfst nicht böse sein.“ „Nein, warum auch?“, rief ich und wurde ungeduldig. „Also, woraus sind sie?“ „Aus Licht“, sagte Martin entschieden. Und mit noch größerem Staunen vernahm ich die Vorstellung dieses elfjährigen Nachbarsjungen vom Wesen der Engel; was er mir erzählte, liest sich so:
Vor allem wissen Engel nicht, daß sie Engel sind. Tatsächlich gleichen sie den Menschen aufs Haar, sie sind Frauen, Männer, Kinder – natürlich haben sie keine Flügel und überbringen auch keine Botschaften! Sie spüren nur einen starken Drang zu helfen, auch wenn es sie Opfer kostet, und glauben, das sei menschlich, da sie ja Menschen sind und nichts anderes. Sie essen, trinken und schlafen wie alle Menschen. Engel werden vom Himmel eingesetzt, um zu helfen; ohne Engel würden die Menschen das Leben mit seinem Schmerz und seiner Angst nicht ertragen. Da die Menschen aber keine Hilfen von oben annehmen wollen und meinen, alles, was sie an Kraft besitzen, nur sich selbst zu verdanken, müssen Engel heimlich helfen, so heimlich, daß sie es selbst nicht wissen. Sie halten sich ihr ganzes Leben lang für das, was die anderen um sie herum auch sind: für Menschen. Wenn einer mal glaubt, etwas Höheres zu sein, dann ist er nur ein bißchen verrückt … Ich weiß nicht, ob Engel nur Menschen sein können oder auch Tiere, Hunde zum Beispiel; ein Engel in Hundegestalt, das fände ich schön und eigentlich logisch …
Wenn man wissen will, ob einer ein Engel ist, muß man warten, bis er stirbt. Engel sterben wie alle Menschen, an Krankheiten, an Verkehrsunfällen, manchmal sogar an Drogen. Und wie alle Menschen werden sie begraben – doch, und das ist der Unterschied, wenn man ihr Grab öffnet, ist es leer. Schon nach kurzer Zeit liegt in ihrem Grab keiner mehr, nur ein leerer Sarg oder eine leere Urne befindet sich darin. Keine Spur von einer Leiche, nichts! Und warum? Was denkst du? Weil sie sich in Licht aufgelöst haben und dieses Licht aus dem Grab steigt und immer weiter steigt, um droben am Himmel mit dem übrigen Licht vereinigt zu werden und mit ihm zusammenzufließen ohne Unterschied. Nicht der kleinste Rest bleibt von einem Engel übrig! Er ist wieder ganz zu Licht geworden, und Gott kann von der großen Lichtmasse noch einmal ein kleines bißchen Licht wegnehmen und daraus einen Engel machen, wenn mal wieder einer gebraucht wird … und so weiter und so fort …„Was meinst du?“, fragte Martin nach einer kleinen Pause. „Könnten wir beide oder wenigstens einer von uns nicht auch so ein Engel sein?“
Kurt Oesterle
geboren 1955 in Oberrot/Nordwürttemberg studierte Geschichte, Literaturwissenschaften und Philosophie. Von 1988 bis 2009 arbeitete er für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung und beim Schwäbischen Tagblatt, Tübingen. Neben seiner journalistischen Tätigkeit war er auch immer schon literarisch tätig. So verfasste er für die FAZ verschiedene Gedichtinterpretationen, des weiteren erschienen Monografien und Essays über Wolfgang Koeppen, Schiller, Heine, Peter Weiss u.a.
Der literarische Durchbruch gelang ihm 2002 mit dem Roman „Der Fernsehgast oder wie ich lernte, die Welt zu sehen“, der mit dem Berthold-Auerbach-Preis ausgezeichnet und von der Darmstädter Jury zum „Buch des Monats“ gewählt wurde. Es folgten weitere Romane, Sachbücher und Essaybände, u.a. 2014 „Der Wunschbruder“ und 2019 „Die Stunde, in der Europa erwachte“. Zuletzt erschien „Wir & Hölderlin. Was uns der größte Dichter der Deutschen 250 Jahre nach seiner Geburt noch zu sagen hat“. Kurt Oesterle arbeitete außerdem bei verschiedenen Hölderlin-Produktionen für Funk und Fernsehen (SWR, ARTE u.a.) mit. Der Autor lebt in Tübingen.
Mehr zu ihm und seinem Büchern findet sich unter www.kurt.oesterle.de.